Öffentlichkeit im Wandel: Überlegungen zum vormedialen Raum

Vor einem Jahr war ich an das Freie Russisch-Deutsche Institut für Publizistik (FRDIP) in Moskau geladen, um aus PR-Sicht zu schildern, wie sich das öffentliche Umfeld, in dem Krisen stattfinden, wandelt. Mein Vortrag war nur einer von vielen: Im Rahmen eines Symposions wurden unterschiedliche Aspekte der Medien- und Wirtschaftskrise sowie von Unternehmenskrisen diskutiert. Besonders spannend hierbei war natürlich die international vergleichende Diskussion mit russischen Kollegen. Nun wird in Kürze ein Sammelband zur Tagung erscheinen und die unterschiedlichen Perspektiven festhalten. Ich habe dies zum Anlass genommen, nochmal etwas ausführlicher meine Sicht auf den Wandel der Öffentlichkeit zu beschreiben.

Einen PrePrint meines Artikels habe ich auf Slideshare bereit gestellt. Inhaltlich knüpfe ich an Diskussionen zum Wandel der Öffentlichkeit und zum vormedialen Raum an, die einigen Lesern dieses Blogs vertraut sind. Entsprechend der Themenvorgabe liegt der Fokus auf den Konsequenzen für die Krisenkommunikation.

Unabhängig davon und unabhängig von einer Diskussion zu den Anforderungen, die sich aus der Netzkultur ergeben, die wir heute in einem Seminar ausführlicher hatten, möchte ich zwei Fäden des Artikels auch hier nochmal aufnehmen: Die Frage einer fragmentierten Öffentlichkeit und den Begriff des vormedialen Raumes.

Fragmentierte Öffentlichkeit?

Im Social Web sind bekanntlich eine Vielzahl mehr oder weniger stark vernetzter Mikroöffentlichkeiten anzutreffen. Ich halte in diesem Zusammenhang das Bild skalierbarer Öffentlichkeiten für nützlich. Dies hängt damit zusammen, dass das Internet nicht ein Massenmedium darstellt, sondern eine „technische Infrastruktur, die soziale Kommunikation jeder Art ermöglicht“ (Wolfgang Schweiger 2008). Konkret bedeutet dies, dass im Social Web Publiziertes zu einem Mindestmaß (teil-)öffentlich ist, aber durch Verlinkung nahezu beliebig große Öffentlichkeiten entstehen können. Entgegen einiger Kritiker sind die Mikroöffentlichkeiten (Jan Schmidt spricht von persönlichen Öffentlichkeiten) nicht unbedingt als eine fragmentierte Öffentlichkeit mit desintegrativer Wirkung zu verstehen: Christoph Neuberger argumentiert stattdessen, dass in der Social Media-Welt zunächst die Themenvielfalt erweitert wird (Neuberger 2009). Zudem hält er es für plausibel, dass „es eine große Schnittmenge unter den Themen gibt, die an vielen Stellen aus unterschiedlichen Perspektiven im Internet behandelt werden“ (ebd.). Und schließlich, so argumentiert auch Neuberger, ist nicht zu vernachlässigen, dass auch im Social Web häufig Themen der Massenmedien diskutiert werden, also Anschlusskommunikation stattfindet.

Der vormediale Raum

An dieser Stelle will ich nochmal etwas ausführlicher (als z.B. hier) auf den vormedialen Raum eingehen, in dem die erwähnten Mikroöffentlichkeiten ihren Platz haben. Die hier zur Diskussion gestellen Überlegungen sind im Wesentlichen vor einiger Zeit in einer Mail-Unterhaltung mit Jan Manz entstanden (danke für die Anstöße!).

Bis vor kurzem ist davon ausgegangen worden, Öffentlichkeit sei in einer modernen Gesellschaft etwas, das praktisch ausschließlich durch Medien, also professionelle Kommunikatoren (hier sind Wechselwirkungen zwischen PR und Journalismus mitgedacht) hergestellt wird. Mittlerweile ist klar, dass dies nur ein Teil der Wahrheit ist und Öffentlichkeit auch ohne Journalisten bzw. andere Berufskommunikatoren hergestellt werden kann. Hier kommt der vormediale Raum ins Spiel.

Nach meinem Verständnis umfasst der vormediale Raum Veröffentlichungsorte, die nicht von klassischen Medien bzw. Redaktionen bespielt werden. Das heißt, ich betrachte den vormedialen Raum als Ausgangsort von Konversationen, die nicht von Berufskommunikatoren direkt angestoßen werden: Hat also ein Medium eine Diskussion angestoßen (z.B. indem ein Artikel veröffentlicht wird, der eine Diskussion auf der selben Plattform auslöst), würde ich das dem medialen Raum zuordnen – ähnliches gilt für einen Leserbrief in der Zeitung. Anders ausgedrückt: Hinter diesem Agenda Setting stecken entweder klassische mediale Mechanismen – also Auswahlprozesse, die sich v.a. an professionellen Nachrichtenwerten orientieren oder das Ganze steht unter dem formalen Dach einer Medienmarke. In der Folge muss ich für dort ausgelöste Diskussionen weiter von medialer Aufmerksamkeit ausgehen (also z.B. annehmen, dass Journalisten den Verlauf der Diskussion verfolgen). Blogs unter dem Dach einer Medienmarke sehe ich als Baustein eines redaktionellen Konzepts und nicht als Bestandteil des vormedialen Raumes.

Im Gegensatz dazu ist für mich der vormediale Raum dadurch gekennzeichnet, dass in ihm öffentlich diskutiert wird, aber die Medien hierin keine aktive Rolle spielen. Eine Veröffentlichung oder Diskussion geht also auf die Initiative eines Nutzers oder einer Nutzergruppe zurück. Ob ein Thema veröffentlicht wird oder nicht, richtet sich nach individuellen Faktoren, nicht unbedingt nach journalistisch-professionellen.

Inhaltlich kann es dabei natürlich wiederum um Themen aus den Medien gehen, muss es aber nicht. Häufige Themen sind auch individuelle Perspektiven wie Erfahrungen mit einem Produkt oder die Wahrnehmung unternehmerischen Tuns, der Politik etc. durch den publizierenden Nutzer. Und natürlich können sich wiederum Journalisten für Diskussionen im vormedialen Raum interessieren: Sie setzen ihre professionellen Maßstäbe an und filtern heraus, was sie als nützlich für ihre Plattformen empfinden und formal ihren Nachrichtenwerten entspricht. Dann gibt es einen Übergang vom vormedialen Raum in den medialen.

Ein Hintergrund für dieses Verständnis ist sicher auch, dass der Begriff des vormedialen Raumes in Ansätzen schon seit längerem im Issues Management verwendet wird. Ursprünglich waren damit natürlich andere Arenen gemeint, beispielsweise Diskussionen von Experten auf Kongressen. In diesem Verständnis wie auch in meiner Adaption an die Social Media-Welt spielen dann Fragen wie Themenkarrieren etc. wieder eine wichtige Rolle.

Hier wiederum wird nach meinem Verständnis die soziale Netzwerktheorie hilfreich. Zugespitzt lässt sich formulieren, dass Nachrichtenwerte der Medien innerhalb des vormedialen Raums abgelöst werden durch soziale Beziehungen und konkrete individuelle Interessen.

Ausblick

Abgeschlossen habe ich das Manuskript schon vor ein paar Monaten. Wie es immer so ist bei Themen, die einem raschen Wandel unterliegen, ließe sich aus heutiger Warte das ein oder andere sicher ein wenig anders vertiefen. Hinzu kommen zwangsläufig Lücken: Im Artikel habe ich versucht, einen Anschluss zu einzelnen Konzepten der Öffentlichkeit herzustellen. Allerdings ist mir klar, dass dies nur sehr kursorisch geschieht. Dringend notwendig ist aus meiner Sicht eine noch systematischere Diskussion unterschiedlicher Öffentlichkeitskonzepte, die auch Konzepte benachbarter Disziplinen einschließt.

9 Kommentare

  1. Ganz ehrlich: Der Begriff ‚vormedialer Raum‘ ist grauslig. Er unterstellt einen (geografischen) definierten Ort, durch den man erst gehen muss, um dann endlich im „Wohnzimmer“ der Medien anzukommen. Ein Flur geringer Aufenthaltsqualität, wenn man so will, mit „vorgeschichtlicher“ Ausstattung. Er bringt die Gleichberechtigung gg. klassischen Medien nicht zum Ausdruck.

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  2. Hm, ich habe den Begriff bisher nicht so bildhaft gesehen. Er ist wie gesagt in der PR-Forschung seit langem eingeführt (mind. seit den achtziger Jahren), weshalb es mir nicht verkehrt scheint, Anschlussfähigkeit zu erhalten. Es ist natürlich immer eine Abwägungssache, manchmal ist es aber doch einfacher, eingeführte Kategorien weiter zu verwenden bzw. weiter zu entwickeln.

    Aber um die wahrgenommene Empfindung auf den Kopf zu stellen: Im Issues Management ist klar, dass es der vormediale Raum ist, in dem es wirklich spannend ist – denn dort entstehen die neuen Themen und dort sind die Chancen für wirklichen Diskurs am größten ;)

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  3. Also, ich finde den Begriff „vormedialer Raum“ nicht so grauselig, weil ich weniger eine geografische, denn einen topografische Koordinate damit verbinde. Aber das nur am Rande. Was mich mehr erstaunt ist, dass es im Text so herauskommt, als sei „vormediale“ Kommunikation etwas Unerwartetes, Neues. – Um nur ein Beispiel zu erwähnen: Ist am „Stammtisch“ irgend etwas ungewöhnlich, unerwartet oder neu?

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  4. Faktisch ist da natürlich wenig Unerwartetes bzw. Neues am vormedialen Raum, so wie wir ihn seit Jahren sehen. Allerdings passt das Ganze jedoch nicht in klassische Theorien der Öffentlichkeit, die nach meinem Eindruck heute noch in vielen Köpfen ist – für die mag deshalb manch Unerwartetes drin stecken (Beispiele: Rolle des vormedialen Raumes nach der Loveparade-Katastrophe oder zu Stuttgart21)

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