Ströme und Pakete – ein Essay

Als ich vor einigen Wochen ein inzwischen längst laufendes Seminar zu Online-PR vorbereitet habe, sind mir zwei große Entwicklungslinien aufgefallen, die nach meinem Eindruck gerade im Netz eine besondere Rolle spielen: Informationsströme und -Pakete. Was verstehe ich darunter? Ich versuche beides anhand meiner eigenen Wahrnehmung, also sehr subjektiv, darzustellen. (Vorsicht, das wird ein längerer und nicht tagesaktueller Post.)

Mehr denn je publizieren wir im Netz (auch wenn „wir“ noch eine Minderheit sind). Während es seit jeher im Kern des Journalismus liegt, Informationsströme zu produzieren, hat sich dieses Prinzip inzwischen auf einen größer werdenden Teil der Internetnutzer übertragen: Viele pflegen laufend ihre Statusinformationen in Social Networks, andere bloggen oder nutzen Microblogs wie Twitter, ergänzend vielleicht auch Life Aggregatoren wie z.B. FriendFeed oder Livestream. Auch das Lifestreaming von Bewegtbildern mit Hilfe des Handies oder der Videokamera ist heute kein Problem. Dieser dauerhafte Strom ist ein ständig anschwellendes Grundrauschen. Es ist das Rauschen, das mein soziales Netzwerk produziert. Darin ist für mich Relevantes und weniger Relevantes zu finden. Filter sind darin nicht professionelle Auswahlkriterien vor dem Senden der Informationen, wie wir sie aus dem Journalismus kennen, sondern wir können nur entscheiden, an wessen Informationsströmen wir teilhaben – oder nicht. Wir selektieren also, indem wir unsere sozialen Netze so oder so knüpfen – beispielsweise, indem ich entscheide, ob auch ich einem neuen Follower meines Twitterstromes folgen möchte oder nicht. Das Besondere: Wer einmal in ein Online-Netzwerk integriert ist, hat eine Vertrauensposition inne. Denn das Netzwerk gibt Orientierung, das Netzwerk filtert, wie Ed Wohlfahrt schön beschreibt.

Gleichzeitig haben diese Ströme, die immer die Ströme spezifischer Netze sind, nicht nur eine Informationsfunktion, sondern auch soziale: beispielsweise die der Handlungskoordination oder die des Dazugehörens – und damit des Wissens um die anderen („digital Intimacy“) und ggf. um potenzielle Unterstützung. Zumindest in dem begrenzten Maße, das Weak Ties (vgl. Granovetter 1983, pdf) erwarten lassen. Und: In gewisser Weise spiegelt für viele die Lautstärke des Rauschens ihr digitales Sozialkapital wider. (Man kann sicher diskutieren, ob man das digitale Sozialkapital von jenem in der realen Welt trennen kann – in der Tendenz denke ich aber, dass man Online und Offline im Extremfall ganz unterschiedliche Rollen einnehmen und damit unterschiedliche Netze und so etwas wie granuliertes Sozialkapital aufbauen kann). Das Auffällige an diesem Rauschen: Ab und zu fischen wir einzelne Töne oder kleine Motive heraus und binden sie in unsere Realität ein. Jedoch kommt kaum jemand auf die Idee, vor kurzem verklungenen Tönen nachzuspüren. Diese sind sprichwörtlich im Rauschen untergegangen. Wir haben schlichtweg etwas anderes zu tun gehabt, als sie zu empfangen.

Das Erstaunliche: In den meisten Fällen ist es gar nicht so schlimm, Stunden oder Tage von diesem Rauschen abgeschnitten zu sein. Das ist jedenfalls mein Erleben. Wobei es sicher einen Lernprozess erfordert, genau dies zu erkennen. Allerdings ist ab und zu – soviel weiß jeder von Wahrscheinlichkeitsrechnungen – doch etwas im verpassten Informationsstrom, das genau für mich höchst relevant gewesen wäre. Seit einiger Zeit mache ich mir hierüber dennoch keine allzu großen Sorgen mehr, bietet doch das Netz so viele Möglichkeiten, eine Information zu bewahren und auf Wege zu schicken, die dann doch irgendwie wieder in meine Wahrnehmung führen. Denken wir nur an Social Bookmarks, Tags oder generell die Vernetzung innerhalb des Social Web. Das sorgt dafür, dass die wirklich wichtigen Themen nicht nur einmal auftauchen, sondern sie werden weitergereicht, angereichert und damit in der Wahrnehmungsmaschine nach oben gespült- was für mich wirklich relevant ist, haben wahrscheinlich schon ein paar andere ähnliche Gesinnte auch entdeckt und festgehalten. Je dichter also das soziale Netz geknüpft ist, desto wertvoller ist es für den einzelnen.

Lifestreams sind eine Arena dieser Wahrnehmungsmaschine, die sich darin quasi unter die Motorhaube schauen lässt: In Friendfeed & Co. lässt sich trefflich beobachten, wie Personen Themen wandern lassen und abgewandeln. Doch ehrlich gesagt genügt es mir, darin grobe Entwicklungen zu begreifen, aus denen ich mich aber immer wieder ausklinke. Denn der entscheidende Engpass ist die zur Verfügung stehende Aufmerksamkeit. Schließlich soll die Aufmerksamkeit, die dem sozialen Netz gewidmet wird, nicht das Ich einschränken.

Während die Informationsströme stark mit Personen zusammenhängen, sehe ich gleichzeitig eine Entwicklung hin zu thematisch gebündelten Bereichen im Netz, bei Friendfeed also die Rooms (ein Beispiel). Hier kann ich mich in den Diskussionsstrom zu einem Thema einklinken, das mich interessiert – und zwar ohne die im Rauschen des Lifestreamings oft wahrzunehmende Redundanz oder die – für mich zumindest – oft sozialen Belanglosigkeiten. Eng verbunden mit der erwähnten Redundanz ist mir ein zu bunter Rollenmix der Akteure im Lifestreaming. Anders gesagt: Lifestreaming kann auch zu Überlagerungen unterschiedlicher Netze führen und damit disfunktional werden. Dennoch ist der Trend zur gefühlten Nähe nicht zu unterschätzen – das Internet (wie übrigens auch das Handy) hilft, ganz andere soziale Netze zu pflegen als wir es noch einigen Jahren gewohnt waren.

Aber die erwähnten Rooms zielen aus meiner Sicht in eine andere Richtung: einen Kontrapunkt zu den Strömen, die immer den Eindruck einer fortwährenden Flut erzeugen. Mit dem Kontrapunkt meine ich das Verlangsamen durch das Bündeln und Strukturieren von Informationen. Dies ist mehr als das punktuelle Herausfischen einzelner Bestandteile der vielfältigen Ströme. Wichtig war uns solches Strukturieren schon immer: Seien es journalististische Dossiers oder mehr oder weniger kommentierte Linksammlungen. Auch neuere Strukturierungsprinzipien wie Tags helfen, thematisch Verwandtes auch tatsächlich zusammenzubinden.

Kleiner Exkurs: Tags haben – wie generell Abfragen bei Suchmaschinen (die ja die flexibelste Art von Themenbündeln in Sekundenbruchteilen zusammenstellen) – den Vor- und den Nachteil der laufenden Erweiterbarkeit – also der schieren Grenzenlosigkeit. Durch Eingabe eines Tags oder eines Suchwortes in eine Suchmaschine schafft man demnach nur eine Leitplanke, doch die Ergebnisliste reicht oft weit über den Horizont hinaus. Dadurch scheint ein psychologischer Junk Food-Effekt zu entstehen: Wir Nutzer futtern die erstbesten Suchergebnisse, definieren diese als unsere Realität (die doch von der Suchmaschine und Websiteoptimierern konstruiert worden war), haben aber dennoch das schlechte Gefühl, Gutes verpasst zu haben, denn wir kommen meist einfach nicht über die dritte Ergebnisseite von Google hinaus. (Ende des Exkurses)

Genau hier setzen aus meiner Sicht die Informationspakete an. Das Entscheidende: Hier geht es nicht nur um die Leitplanken als Begrenzung nach links und rechts, sondern auch um einen klaren Endpunkt. Konkret verstehe ich unter Informationspaketen eine kommentierte Zusammenfassung von Quellen zu einem Thema. Zusammenfassung bedeutet dabei, dass dies keine uferlosen Sammlungen sind, sondern im Gegenteil: Das pointierte Zusammenstellen einschlägiger Details. Hierbei sind verschiedene Aspekte zu bedenken: Natürlich ist jede solche Zusammenstellung subjektiv, sie unterliegt also den Relevanzkriterien des Einzelnen bzw. den unterstellten Relevanzkriterien der Zielgruppe. Und andererseits ist solches Bündeln keine Exklusivleistung mehr des Journalismus, sondern jeder Internetnutzer ist potenziell hierzu in der Lage. Idealfall: Er kennt sich mit dem jeweiligen Thema aus bzw. hat dazu eine entsprechende Online-Reputation erarbeitet. Grundsätzlich ist möglich, dass ein solches Paket durch das Wissen der anderen weiterentwickelt wird, indem sie überarbeiten, kommentieren oder ergänzen können. Ein Prinzip, wie es auch bei Wikis zu finden ist.

Doch geht es bei Wikis meist um das Erstellen originärer Inhalte, so scheint mir nun auch die Zeit für Dienste bzw. Dienstleistungen gekommen zu sein, die es ermöglichen, im Netz bereits veröffentlichte Inhalte (egal, ob Video, Blogbeitrag, Präsentation etc.) zu bündeln und höchstens knapp zu kommentieren. In diese Richtung dachte vor ein paar Monaten schon Steve Rubel mit seinem Konzept des „digital Curator“ – eine Art Gatekeeper 2.0:

„Digital Curators are the future of online content. Brands, media companies and dedicated individuals can all become curators. Further, they don’t even need to create their own content, just as a museum curator rarely hangs his/her own work next to a Da Vinci. They do, however, need to be subject matter experts.“

Zielgruppe für solche Informationsbündel sind aus meiner Sicht alle, die sich zu einem bestimmten Thema informieren wollen – gute Informationspakete sind also eine Alternative zum Durchklicken von Ergebnislisten der Suchmaschinen. Praktisch für alle Themen und Lebenslagen sind also Anwendungsbeispiele denkbar – von der Information zu einer Krankheit über Argumente im poliitschen Diskurs bis hin zur Lerneinheit. Allerdings ist klar: Pakete kann man so oder so schnüren. Ihr Inhalt ist immer Ergebnis einer Auswahl und damit möglicherweise Ausfluss einer bestimmten Absicht. Grundsätzlich kennen wir dies auch aus dem Journalismus: Je nach Blattlinie werden z.B. Argumente unterschiedlich gewichtet. Medienkompetenz benötigen die Nutzer also allemal.

Nun fragt sich, wie solche Themenpakete aussehen und womit sie zusammengestellt werden könnten.  Ein Dienst, der dies vermag und den ich neulich für mich entdeckt habe, heißt Agglom. Hier kann ich Fundstücke aus dem Web – Websites, Blogposts, Videos, Präsentationen etc. – zusammenbinden und die einzelnen Sites in eine Art Slideshow packen, die unter einem Link erreichbar ist. Ich habe zum Beispiel mal ein paar Quellen zur Social Media-Strategie von Dell zusammengebaut (hier ist die Slideshow). Was mir daran besonders gefällt: Das Ganze hat die typischen Social Media-Spielereien: Öffentliches oder teil-öffentliches Publizieren, Kommentieren – und natürlich das Ergänzen durch andere User. Im Gegensatz zu Google Knol, das mich kaum überzeugt, geht es hier darum, wertvolle Originalquellen zu bündeln.

Ein anderes Beispiel: Bei diesem Themenpaket zum Daimler-Blog, das ich im erwähnten Seminar einsetzen möchte, habe ich das Ganze noch etwas weiter getrieben: Die einzelnen Fundstellen habe ich jeweils kurz kommentiert, wobei ich auf die Idee gekommen bin, in einen solchen Kommentar auch gleich ein, zwei Aufgaben für Lernende einzubauen.

Abschließend fragt sich nun, ob es von diesen beiden Themen – den Lifeströmen und den Themenpaketen – eine Verbindung zur PR gibt. Ich meine: ja  – wenngleich das Ganze noch in einer sehr frühen Phase ist und nicht vorhergesehen werden kann, wie sich das tatsächlich entwickelt. Generell halte ich Lifeströme aus PR-Sicht zukünftig vor allem für etwas Wahrzunehmendesim Sinne des Online-Monitorings. Das Entstehen und die Entwicklung neuer Themen lässt sich darin wunderbar verfolgen (Einschränkung: Noch ist Livestreaming nicht weit verbreitet, diese Aussage gilt also nicht für alle Themen bzw. Stakeholder). Natürlich können auch verschiedene Social Media-Aktivitäten einer Organisation in einem solchen Strom zusammengefasst werden, doch halte ich dies in dem meisten Fällen für nicht besonders erstrebenswert. Denn PR verlangt zielgruppengerechte Kommunikation und üblicherweise nicht das Zusammenführen aller Kommunikation.

Andererseits hat PR die Aufgabe, Informationen zu bündeln und zugänglich zu machen. Dies scheint mir – nebenbei bemerkt – beispielsweise im Konzept der Social Media Release (SMR) angelegt zu sein. Im Gegensatz zu Lifeströmen bleibt es hier bei einem zwar reichhaltigen, aber klar begrenzten und nicht-flüchtigen Sammeln von Bausteinen zu einem Thema. Dienste wie Agglom könnten z.B. auch problemlos im Campaigning von Nonprofit-Organisationen eingesetzt werden – etwa, wenn es darum geht, authentische Originalinformationen zu bündeln und so Informationstiefe und Glaubwürdigkeit herzustellen.

Was aber die entscheidende Frage jenseits der PR ist: Wer schnürt die Themenpakete – wer ist also digitaler Kurator? Ich denke, hier gibt es viele Möglichkeiten zu diskutieren. Die Offensichtlichste: Jeder, der Lust (und hoffentlich Ahnung vom jeweiligen Thema) hat. Zweitens: Journalisten. Ähnliche Formate haben in den Medien wie gesagt Tradition und gehören auch dorthin. Gleichzeitig können zum Beispiel auch Lehrende diese Rolle wahrnehmen. Schließlich könnten auch Institutionen wie NGOs, Agenturen oder unternehmensinterne Teams (mit Blick auf die interne Kommunikation) solche Aufgaben übernehmen. Aber für alle, die in die Rolle des digitalen Kurators schlüpfen, gilt eines: Sie haben die Möglichkeit, Aufmerksamkeit und Akzeptanz zu gewinnen – und damit Online-Reputation.

So, das ist nun ein ganz schön langer Post geworden, und viele andere wichtige Entwicklungen sind noch nicht angesprochen. Worüber ich mir ehrlich gesagt noch nicht im Klaren bin: Werden Themenpakete, die auf dem Prinzip des User Generated Content basieren, tatsächlich weitere Verbreitung finden? Unwahrscheinlich scheint es mir nicht – auch wenn das Ganze in manchen Ohren als zu idealisierend klingt. Aber vielleicht brauchen wir solche Inseln umso mehr, je mehr wir unter der Flüchtigkeit und der Wucht von Informationsströmen leiden. Was meinen Sie?

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10 Kommentare

  1. Ein wirklich lesenswerter Post über das Livestreaming! Natürlich ist es richtig, dass es Aufgabe der PR ist, diese Entwicklung zu beobachten und zu monitoren. Doch gleichzeitig kann sie auch gezielt darauf hinwirken, Issues zu bewegen und im Rahmen eines Agenda Settings wirksam werden zu lassen. So kann ich via Twitter oder Friendfeed oder Blog oder Facebook jeweils eine Bewegung der Informationssuchenden im Netz auslösen.

    Ich gebe jeweils eine Linkempfehlung, mal live, mal asynchron – aber jeweils mit enormer Wirkung auf die Wahrnehmung der Netizens. Mit etwas Glück erhalte ich dadurch dann als Online-Akteur die Aufmerksamkeit, die mein Thema – meine Marke – in die Lifestreams führt und somit im Rahmen digitaler Mundpropaganda sich selbst entfalten lässt.

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  2. Ok, diese Argumentation kann ich nachvollziehen. Ich bin implizit davon ausgegangen, dass Livestreaming die Aggregation unterschiedlichster Kanäle meint, während ich Microblogging davon gedanklich getrennt habe, da IMO jeder individuelle Kanal ein eigenes soziales Netz aufbaut. Aber praktisch betrachtet sind die Grenzen wohl fließend: Allein aufgrund der hohen Taktfrequenz erzeugt Microblogging natürlich auch einen schnell fließenden Strom.

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  3. Danke für den interessanten Artikel. Die Idee, Agglom für Social Media Releases zu benutzen, finde ich sehr gut. Bisher habe ich diesn Dienst nur für das Speichern von Browser Sessions benutzt. Ähnliche Dienste wie Agglom leistet übrigens das multifunktionale Social Bookmarking Tool Diigo. Auch damit lassen sich Themen in Listen bündeln, kommentieren, taggen und sharen – auch als Slideshow. Aber Agglom wirkt im Vergleich übersichtlicher und durch die Thumbnails der Seiten zudem anschaulicher.

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  4. Ah, danke für den Hinweis. Merke daran, dass ich wohl nur einen Bruchteil von Dijgo bisher genutzt habe. War für mich bisher nur ein Tool, um Inhalte auf Websites hervorzuheben bzw. zu kommentieren – als Vorbereitung zu Diskussionen im Seminar.

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